DER
JANUAR
DER
FEBRUAR
DER
MÄRZ
DER
APRIL
DER MAI
DER
JUNI
DER
JULI
DER
AUGUST
DER SEPTEMBER
DER
OKTOBER
DER NOVEMBER
DER DEZEMBER
DER
DREIZEHNTE MONAT
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Die hier gesammelten Gedichte schrieb, im
Lauf eines Jahres, ein Großstädter für Großstädter. Links von Block und
Bleistift lag der fünfte Band des Kleinen Brehm, 'Die deutsche Tierwelt'.
Zur Rechten lagen 'Unsere Pflanzenwelt' und ein Leitfaden, der, fragwürdig
genug, 'Die deutsche Schulflora' hieß. Die Bücher mussten zur Hand sein.
Eine Zeitschrift hatte die Gedichte bestellt. Illustriert werden sollten
sie außerdem. So blieb dem Autor nichts übrig, als dem Kalender
vorzugreifen. Den Januar musste er schon im November besingen, und den Mai
im März. Zwölf Monate lang war er dem Jahr um sechs Wochen voraus. Er
konnte nicht "nach der Natur" arbeiten, sondern nur "aus dem Gedächtnis",
und darauf war, wie er bald merkte, kein Verlass.
Er schämte sich. War denn nicht die Prozession der Monate, froh und bunt
und düster, mehr als fünfzigmal an ihm vorbeigezogen? An den Augen vorbei
und, oft genug und feierlich, durchs ganze Gemüt? Nun sollte er nichts tun
als die Vergangenheit prophezeien, und er konnte es nicht. Die
Erinnerungen verschwammen wie in einem billigen Spiegel. Aber es lag nicht
am Spiegel. Es lag an den Erinnerungen. Es lag an den großen Städten. Sie
hatten Strauch und Baum und Wiese aus den Mauern gejagt. Hinaus zu den
Friedhöfen und Zoologischen Gärten ...
Die Brauereipferde werden von den Kindern angestaunt wie galvanisierte
Saurier. Sitzt ein Vogel irgendwo, ist's ein entflogener Wellensittich.
Der Balkon blieb ein rührender, fünf Quadratmeter großer Versuch. Ein
Versuch, etwas Himmel überm Kopf zu haben. Doch was hat man überm Kopf?
Einen Balkon. Was hat man, außer dem Geranientopf, vor Augen? Fenster,
Drähte, Mauern und, im besten Falle Geranientöpfe und Balkons. Die Natur
kann sonntags vor der Stadt besichtigt werden, samt dem Friedhof und dem
Zoo. Sie wurde ein Museum ohne Dach. Es fehlt nur noch, dass man dem
Hahnenfuß, der Esche und dem Hänfling kleine Nummernschilder umhängt. (Den
einschlägigen Katalog könnten invalide Kriegsteilnehmer am Hauptportal
verkaufen.) Das Gänseblümchen wurde zur "Victoria regia" degradiert. Die
Jahreszeiten finden in der Markthalle statt. In den Blumenläden und auf
den Gemüsekarren. Und, zum Frühstück, als Wetterbericht.
Sollten die Philosophen recht haben? Verläuft unser Weg, der Weg quer
durch die Zeit, im Spannungsfelde der zwei Großmächte Natur und
Geschichte? Dann hat der Großstädter den Weg des Menschen längst
verlassen. Dann ist er der jüngere Bruder des geschichtslosen Zweibeiners
auf dem Atoll in der Südsee. Dann ist er der naturlose, der denaturierte
Wilde. Dann ist er ein motorisiertes Eisenfeilspänchen, das, blind und in
beiderlei Wortverstande "rasend", dem Magnetberg der Geschichte
entgegenjagt.
Die hier gesammelten Gedichte schrieb ein Großstädter für Großstädter. Er
versuchte sich zu besinnen. Denn man kann die Besinnung verlieren, aber
man muss sie wiederfinden. Man müsste wieder spüren: Die Zeit vergeht, und
sie dauert, und beides geschieht im gleichen Atemzug. Der Flieder
verwelkt, um zu blühen. Und er blüht, weil er welken wird. Der Sinn der
Jahreszeiten übertrifft den Sinn der Jahrhunderte.
Die zweite Austreibung aus dem Paradies hat stattgefunden. Und Adam und
Eva haben es diesmal nicht bemerkt. Sie leben auf der Erde, als lebten sie
darunter. Ausflüchte sind keine Auswege. Schussfahrten sind Ausflüchte.
Was, nun gar, könnten ein paar Verse vermögen? Sie wurden trotzdem
notiert. Es hatte, wieder einmal und wie so oft, das letzte Wort - das
kleine Wort Trotzdem.
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