ERICH KÄSTNER: DIE 13 MONATE

VORWORT

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DER FEBRUAR

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DER DEZEMBER

DER DREIZEHNTE MONAT

 

 

Die hier gesammelten Gedichte schrieb, im Lauf eines Jahres, ein Großstädter für Großstädter. Links von Block und Bleistift lag der fünfte Band des Kleinen Brehm, 'Die deutsche Tierwelt'. Zur Rechten lagen 'Unsere Pflanzenwelt' und ein Leitfaden, der, fragwürdig genug, 'Die deutsche Schulflora' hieß. Die Bücher mussten zur Hand sein. Eine Zeitschrift hatte die Gedichte bestellt. Illustriert werden sollten sie außerdem. So blieb dem Autor nichts übrig, als dem Kalender vorzugreifen. Den Januar musste er schon im November besingen, und den Mai im März. Zwölf Monate lang war er dem Jahr um sechs Wochen voraus. Er konnte nicht "nach der Natur" arbeiten, sondern nur "aus dem Gedächtnis", und darauf war, wie er bald merkte, kein Verlass.
Er schämte sich. War denn nicht die Prozession der Monate, froh und bunt und düster, mehr als fünfzigmal an ihm vorbeigezogen? An den Augen vorbei und, oft genug und feierlich, durchs ganze Gemüt? Nun sollte er nichts tun als die Vergangenheit prophezeien, und er konnte es nicht. Die Erinnerungen verschwammen wie in einem billigen Spiegel. Aber es lag nicht am Spiegel. Es lag an den Erinnerungen. Es lag an den großen Städten. Sie hatten Strauch und Baum und Wiese aus den Mauern gejagt. Hinaus zu den Friedhöfen und Zoologischen Gärten ...
Die Brauereipferde werden von den Kindern angestaunt wie galvanisierte Saurier. Sitzt ein Vogel irgendwo, ist's ein entflogener Wellensittich. Der Balkon blieb ein rührender, fünf Quadratmeter großer Versuch. Ein Versuch, etwas Himmel überm Kopf zu haben. Doch was hat man überm Kopf? Einen Balkon. Was hat man, außer dem Geranientopf, vor Augen? Fenster, Drähte, Mauern und, im besten Falle Geranientöpfe und Balkons. Die Natur kann sonntags vor der Stadt besichtigt werden, samt dem Friedhof und dem Zoo. Sie wurde ein Museum ohne Dach. Es fehlt nur noch, dass man dem Hahnenfuß, der Esche und dem Hänfling kleine Nummernschilder umhängt. (Den einschlägigen Katalog könnten invalide Kriegsteilnehmer am Hauptportal verkaufen.) Das Gänseblümchen wurde zur "Victoria regia" degradiert. Die Jahreszeiten finden in der Markthalle statt. In den Blumenläden und auf den Gemüsekarren. Und, zum Frühstück, als Wetterbericht.
Sollten die Philosophen recht haben? Verläuft unser Weg, der Weg quer durch die Zeit, im Spannungsfelde der zwei Großmächte Natur und Geschichte? Dann hat der Großstädter den Weg des Menschen längst verlassen. Dann ist er der jüngere Bruder des geschichtslosen Zweibeiners auf dem Atoll in der Südsee. Dann ist er der naturlose, der denaturierte Wilde. Dann ist er ein motorisiertes Eisenfeilspänchen, das, blind und in beiderlei Wortverstande "rasend", dem Magnetberg der Geschichte entgegenjagt.
Die hier gesammelten Gedichte schrieb ein Großstädter für Großstädter. Er versuchte sich zu besinnen. Denn man kann die Besinnung verlieren, aber man muss sie wiederfinden. Man müsste wieder spüren: Die Zeit vergeht, und sie dauert, und beides geschieht im gleichen Atemzug. Der Flieder verwelkt, um zu blühen. Und er blüht, weil er welken wird. Der Sinn der Jahreszeiten übertrifft den Sinn der Jahrhunderte.
Die zweite Austreibung aus dem Paradies hat stattgefunden. Und Adam und Eva haben es diesmal nicht bemerkt. Sie leben auf der Erde, als lebten sie darunter. Ausflüchte sind keine Auswege. Schussfahrten sind Ausflüchte. Was, nun gar, könnten ein paar Verse vermögen? Sie wurden trotzdem notiert. Es hatte, wieder einmal und wie so oft, das letzte Wort - das kleine Wort Trotzdem.