Reden

 

Karin Radermacher, Mitglied des Bayerischen Landtages a. D.

Als die Anfrage kam, ob ich zum 35. Geburtstag des Erich Kästner Kinderdorfes (EKK) eine Festrede halten könne, habe ich mich gefragt, warum ich und was wird erwartet? Kernige politische Aussagen? Ich habe meine aktive politische Zeit abgeschlossen. Also kein politisches Statement. Fachliche Informationen über die Jugendhilfe, über rechtliche, methodische und pädagogische Erkenntnisse? Ich bin zwar Sozialarbeiterin und Psychologin, aber, trotz vieler Berufsjahre, nicht mehr auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand. Es gibt beim großen Kreis der Förderer und Berater sicher Berufenere. Also denke ich, ich spreche als Freundin des EKK und als absoluter Fan von Gunda Fleischhauer zu Ihnen. Keinen Festvortrag, sondern ein subjektives, etwas längeres Grußwort.

Wie hat alles angefangen?

Gunda Fleischhauer sagt selbst: „Ich wollte mir einen Traum erfüllen“ und weiter: „ich glaube an meine Träume und Visionen.“ Das war als sie Mainbernheim und das Haus an der Bahnschranke das erste Mal sah. Dann ging es los, Schlag auf Schlag: Vereinsgründung, Konzepterstellung, Satzung, Notar, Ämter- und Behördengänge, Brief an Erich Kästner wegen der Namensgebung. Fünf Seiten umfasste der Brief und dann ein Telegramm vom 13.05.1974, 15.00 Uhr mit der lapidaren Antwort von Erich Kästner: „Bin mit Kinderdorfbenennung einverstanden“ Eine Frau hatte begonnen sich einen Traum zu erfüllen. Ein Haus, eine Heimat, ein Heim für Kinder. Einen Ort wo Liebe und Vertrauen herrschen sollen.

Herzlichen Glückwunsch, EKK zum 35. Geburtstag.

Erich Kästner könnte stolz sein, wenn er die Entwicklung des Kinderdorfes sehen könnte. Aber warum Erich Kästner als Namensgeber?

Gunda sagt dazu: „Es ist für uns seine Haltung den Kindern gegenüber, die bestimmt wird von Liebe, Wertschätzung und Mitgefühl.“ Wer Kästners Werte kennt – und die meisten Menschen kennen wenigstens seine Filme – spürt diese Wertschätzung und Liebe zu Kindern. Eigentlich ein großartiges, pädagogisches Konzept, einfach und klar, aber auch schwierig umzusetzen.

Die Heimerziehung befand sich im Jahr der Gründung des EKK in einer tiefgreifenden Reformbewegung. In den 70iger Jahren setzte eine Differenzierung und Dezentralisierung der Einrichtungen ein. Deutliche Reduzierung der Gruppengrößen, eine Ächtung repressiver Erziehungsmaßnahmen und eine Verbesserung der Qualifikation des Personals. Kinder und Jugendliche sollten in einer „normalen“ Nachbarschaft aufwachsen. Das EKK wurde in diese Reformbewegung hineingeboren und hat sie aufgegriffen. Die 70iger waren nicht die einzige Reformbewegung im Bereich soziale Arbeit und Jugendhilfe. Die nächste Welle forcierte den Gedanken, dass die Gründe für sozial auffälliges Verhalten eines Kindes nicht in dessen Person zu suchen sind, sondern im sozialen Bezugssystem, z.B. in der Familie. Viele Einrichtungen begannen mit gezielter Eltern- und Familienarbeit. Und schließlich die 3. Reformwelle in den 90iger Jahren. Das Jugendwohlfahrtsgesetz wurde abgelöst durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII). Leitgedanke war die partnerschaftliche Mitwirkung der Betroffenen, ihre Einbeziehung in den Hilfsprozess. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), ein Leistungsgesetz, das einen einklagbaren Rechtsanspruch garantiert. Der Rechtsanspruch alleine fördert und hilft den Betroffenen noch nicht, es bedarf der pädagogischen Ausgestaltung. Es braucht Menschen, die das Recht lebendig machen und seine Umsetzung verwirklichen. Die also Recht und Pädagogik miteinander verknüpfen. Die Verantwortung zum Wohle des Kindes übernehmen. So wie im EKK die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rund um die Uhr 365 Tage im Jahr.

Prägend für die Veränderung der Heimerziehung der 90iger Jahre waren also Dezentralisierung, Regionalisierung, Alltagsorientierung, Integration und Partizipation. Der Leitgedanke war Lebensweltorientierung. Eine weitere Diskussion nahm aber in dieser Zeit ebenfalls Einfluss auf die Heimerziehung und die Jugendhilfe insgesamt, die Ökonomisierung. So müssen sich seit dieser Zeit alle Einrichtungen, alle Maßnahmen auch der Qualitätssicherung stellen. Das heißt auch die Jugendhilfe kann sich der Realität der öffentlichen Finanznot nicht verschließen. Genauso deutlich will ich aber sagen, die Leistungen und Maßnahmenangebote dürfen sich nie an der Finanznot orientieren, sondern immer am Wohl des Kindes. Wir alle wissen um das gegeneinander Ausspielen von Kultur gegen Soziales. Oder Straßen haben immer Priorität, da hohe Zuschüsse, ein beliebtes Spiel, alle Kommunalpolitiker kennen es.

Und die vorläufig letzte Änderung, die Kinder- und Jugendhilfe an die aktuelle Entwicklung anpassen soll, ist das KICK (2005), das Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Es würde zu weit führen das KICK näher zu bewerten. Zurück zum Geburtstagskind, das die geschilderte Entwicklung miterlebt und umgesetzt hat.

Das Wohl der Kinder stand 35 Jahre im Mittelpunkt der Arbeit des EKK. Die Reformen finden sich in der Arbeitsweise des EKK wieder, z.B. bei Aus-, Fort- und Weiterbildung, kurzum bei der Qualifikation. Die Basis Liebe und Mitmenschlichkeit wurde durch ein dickes Netz der Fachlichkeit untermauert. 1991 kam die Anerkennung als heilpädagogisches Heim. Immer war das Team um Gunda Fleischhauer bei den pädagogischen Erfordernissen auf der Höhe der Zeit. Ob Heilpädagogische Tagesstätte in Kitzingen oder KästnerHof als Projekt für schwächere Jugendliche. Gesellschaftliche Notwendigkeiten wurden nicht nur erkannt, sondern es wurde gehandelt. Als die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemerkt haben, dass einige Kinder bei noch so großer Mühe in den Schulen nicht ausreichend gefördert werden können, wurde auch dieses Problem angegangen. Eine eigene Schule musste her, nicht um sich ständig zu vergrößern, nein um den Kindern gerecht zu werden. Das Schulchen. Ich bin sehr stolz, dass ich mithelfen konnte, diese Einrichtung zu verwirklichen. Ich hoffe, dass niemand mehr die Notwendigkeit anzweifelt. Im Übrigen man kann sich trefflich mit diesem Kooperationsprojekt schmücken, auch wenn man zunächst nicht begeistert war, und Bedenkenträger gab es durchaus. Ich freue mich über dieses gelungene Werk besonders.

Es wird immer wieder gefragt. Was sind das eigentlich für Kinder, die hier eine Heimat, ein zuhause finden sollen? Wie haben sich die Kinder in den 35 Jahren verändert? Ist die pädagogische Arbeit schwerer geworden? Sicher sind 35 Jahre ein Grund zum Innehalten.

Das EKK wird besonders dann angefragt, wenn frühe Bindungsstörungen mit zusätzlichen Traumatisierungen nur durch eine langfristige Unterbringung behandelt werden können. Die Kinder kommen aus den unterschiedlichsten familiären Verhältnissen. Drogen- und Alkoholmissbrauch, psychische Erkrankungen der Eltern, und immer häufiger Missbrauch und Misshandlungen der Kinder schon im Kleinkinderalter, um nur einige Ursachen zu nennen. Die Kinder, die heute zum EKK kommen, sind nicht nur verwahrlost und verhaltensauffällig, sie sind tief in ihrer Seele verletzt. Unvorstellbare Verletzungen, und es ist oftmals nicht zu fassen, was Menschen Kindern, ihren eigenen Kindern antun.

Es gibt seit längerem eine Diskussion um die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder und dass man diese nicht aus ihrer Verantwortung entlassen darf. Ja, das ist richtig. Aber wenn diese Aussagen dazu dienen, dass die Gesellschaft – also wir alle – uns aus der Verantwortung stehlen, ist dies ein Skandal. Ja, die erste Verantwortung liegt bei den Eltern, aber der Staat, wir alle, haben die Verantwortung für die Kinder, deren Eltern versagen. Wir müssen hinsehen und helfen. Wir müssen Eltern zur Seite stehen und sie befähigen, ihre Probleme zu meistern. Wir heißt: die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen, die Schulen und die Jugendämter. Alle Kinder, nicht nur die eigenen, sind unsere Zukunft, das darf kein Schlagwort für leere Sonntagsreden bleiben. Und dort wo alle Hilfen nicht greifen, brauchen Kinder ein neues zuhause, eine neue Heimat wie hier im EKK.

Die geschilderte Situation erfordert von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, neben professionellem Handeln, eine tiefe Zuneigung und Liebe zu den Kindern. Das Leitbild des EKK gibt dazu Auskunft. Dort heißt es: „Unsere Basis ist eine humanistische Grundeinstellung und ein pädagogisches Handeln, das von einem demokratisch-kooperativen Erziehungsstil geprägt ist“. Ein großer Anspruch. Wie schafft das Team um Gunda Fleischhauer dies? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, es sind ganz besondere Menschen. Und sie handeln täglich nach dem Grundsatz Erich Kästners.

Es gibt nichts Gutes außer man tut es.

Herzlichen Glückwunsch zum 35. Geburtstag. Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dank an Gunda der Seele des EKK: Allen Kindern, die zurzeit hier leben dürfen eine glückliche Zukunft.

 

Arnulf Koch

 

Sehr geehrte Damen, Sehr geehrte Herren, Liebe Freunde, Liebe Gunda.

Sie haben jetzt sehr viel gehört über das Kinderdorf, über die Arbeit, die es leistet, über die Lebensräume und die Lebensträume, die es bietet und die es zu verwirklichen hilft.
Sie sehen hier viele kleinere und größere Jungs und Mädchen herumlaufen, haben vielleicht schon eine kleine Freundschaft geschlossen, aber was ist eigentlich aus all den kleinen Mädchen und Jungs der vergangenen 35 Jahre geworden? Vor Ihnen steht jetzt einer. Mein Name ist Arnulf Koch. Ich war zwar nicht vor 35 Jahre einer der kleinen Kerle, aber vor 21 Jahren bin ich hier her gekommen. Ich habe von 1988 bis 1996 im Erich Kästner Kinderdorf gelebt. Ich möchte Ihnen gerne ein wenig erzählen, wie es für mich war, hier her zu kommen und hier aufzuwachsen. Wie sieht ein typischer Lebenslauf aus? Gibt es überhaupt einen „typischen Lebenslauf“? Ich möchte Ihnen heute kurz ein paar persönliche Stationen meines Lebens schildern - vor, während und nach meiner Zeit hier im Kinderdorf.

Wie die meisten Kinder und Jugendlichen hier kam ich aus zerrütteten Verhältnissen. Die Zeit vor dem Kinderdorf möchte ich nur in wenige, kurze Worte fassen: Jahrelanger Ehekrieg, Scheidung der Eltern als ich 5 Jahre alt war, psychische Erkrankung der Mutter, mein Vater bekam das Sorgerecht zugesprochen, hat sich aber nicht für mich interessiert und die neue Lebensgefährtin hasste mich förmlich. Ich wanderte ständig zwischen mehreren Pflegefamilien hin und her, wurde in einem Internat untergebracht bis schließlich klar wurde, das sich die Situation in meiner Familie nicht bessern würde und ich so - quasi als Dauerlösung - mit 10 Jahren ins Erich Kästner Kinderdorf nach Iphofen kam.

Erstmals zog hier Ruhe, Stabilität, Kontinuität in mein Leben ein. Doch bevor ich auf die Zeit im Kinderdorf eingehe, sage ich Ihnen noch, was ich nach dem Kinderdorf gemacht habe und wo ich heute stehe. Ich habe mich noch vor dem Abitur selbständig gemacht mit einer Personengesellschaft im Bereich IT, also Informationstechnologie. Nach dem Abitur in Wiesentheid habe ich in Bayreuth und Lauda-Königshofen meinen Wehrdienst geleistet. Im Anschluss daran habe ich an der Universität Würzburg ein Studium der Physik begonnen. Im Juli 2000, vor ziemlich genau 9 Jahren, habe ich mit einem Partner die K&K Software Aktiengesellschaft gegründet und bin seitdem in den Bereichen Softwareentwicklung, Internetauftritte und Netzwerksicherheit tätig für Industrie, Mittelstand und öffentliche Hand. Nicht ohne Stolz kann ich sagen, dass ich doch eine gewisse Reputation erreicht habe. Heute hat meine Firma 10 fest angestellte Vollzeitmitarbeiter. Viele der Anwesenden haben bestimmt schon mal eine von uns erstellte Homepage besucht, z.B. die Homepage dieses Ortes Oberschwarzach oder der Verwaltungsgemeinschaft Gerolzhofen oder des Landkreises Schweinfurt.

Privat bin ich seit knapp 13 Jahren mit Anne zusammen und vor 2 Jahren haben wir geheiratet.

Jetzt kennen Sie meinen Hintergrund, nun zu dem Anlass, zu dem wir heute hier versammelt sind: 35 Jahre Erich Kästner Kinderdorf.

Wie sieht es im Kinderdorf aus Sicht eines Jugendlichen aus, wie lebt es sich hier? Wie ist es, wenn man ins Kinderdorf kommt? Als vernachlässigtes Einzelkind in eine so große Gemeinschaft zu kommen, ist erst mal ein Kulturschock. So viele Kinder, so viele Leute, aber auch Konkurrenz und das Eingliedern ganz unten in der Gruppenhierarchie. Aber man lebt sich ein. Einige Kinder schneller, einige etwas langsamer. Zum ersten Mal im Leben erlebt man ein geordnetes Leben. Es gibt einen Tagesablauf, einen Jahresablauf mit Festen wie Weihnachten und Ostern, und auch Urlaub wird auf einmal erlebbar. Besonders die Ferien sind natürlich ein absolutes Highlight, an das ich sehr gerne zurückdenke. Heute begreife ich doppelt, dass das natürlich nur durch das enorme zeitliche Engagement der Kinderdorf-Eltern möglich war und ist, die in der Urlaubszeit die Rund-um-die-Uhr-Betreuung und Versorgung komplett alleine leisten. Kinderdorf-Eltern? Gestatten Sie mir den kleinen Exkurs: Kinderdorf-Eltern ist einer der großen konzeptionellen Unterschiede zu SOS-Kinderdörfern. Wenn man sagt, man war im Kinderdorf, hört man immer "Aha, SOS-Kinderdorf". „Nein, nein – Erich Kästner Kinderdorf!“

Es gibt viele Unterschiede im Konzept, der signifikantestes  ist die Tatsache, dass im SOS-Kinderdorf die jeweilige Großfamilie von einer Kinderdorfmutter geführt wird. Beim Erich Kästner Kinderdorf gilt das Elternprinzip, das heißt, es gibt neben der Mutter auch eine Vaterfigur. So wird in der Regel jedes Haus von einem Ehepaar, meist mit eigenen Kindern, geleitet.

Doch zurück zu den Urlauben. Wir machten Urlaub, schlossen die Steinmühle ab und zogen in die Welt. Der finanzielle Rahmen ließ nicht viel Spiel, so dass es in der Regel auf Camping am Wasser oder Almhütten ohne Strom herauslief. Immer sehr puristisch, dafür immer mit der Garantie von Abenteuerurlaub. Die Ziele sind in der Regel dem finanziellen Aufschwung der Urlaubsregionen vorausgewandert. Die Frage war immer: Wo kann man mit 15 Leuten für den eher konstanten Betrag X Urlaub machen, während alles immer teurer wird. Wenn ich an die Sommerurlaube denke, erinnere ich mich gerne zurück an die Campingurlaube zuerst in Norditalien am Lido bei Venedig, dann zog es uns nach Süditalien an den Gargano. Wir sind tauchen gegangen, sammelten Muscheln und kochten sie am Abend für ein delikates Festmahl am Strand. Je nachdem, was wir da aus dem Meer rausgezogen haben mal mehr und mal weniger Delikat. Danach ging es in den Osten: Lipno-Stausee in Tschechien, Plattensee in Ungarn und schließlich wieder die Adria, diesmal aber nach Kroatien. Wie gesagt, alles mind. 15 Jahre zurück. Im Winter ging es sehr oft in die Alpen, aber auch im Sommer fanden wir hier oft eine zweite Heimat, in der Regel immer auf abseits gelegene Almhütten in Seitentälern, jahrhundertealt und ohne Strom und großen Komfort. Geheizt und gekocht wurde auf genauso alten gemauerten Küchenöfen. Das Kochen wurde so zu einem kleinen Ausdauerspiel – und ans regelmäßige Lüften musste man auch denken, sonst wäre es doch sehr heiß geworden. Nachts gab's kein richtiges Lichts, deshalb tapste man - leise vor sich hin fluchend - zum Plumpsklo. Das ist ja nachts im Dunkeln schon ein Erlebnis für sich. Nicht nur geruchsmäßig ... Aber gleichzeitig hoffte man, dass sich dort niemand versteckt hat und um Mitternacht „Geister spielte". Wenn doch, dann erschrak man sich ein bisschen und trappelte fröstelnd wieder zurück ins - mehr oder weniger - warme Bett. Am nächsten Tag saß die ganze Bande auf einem großen Holztisch an der Kuhtränke vor der Hütte und frühstückte, die Berge um uns herum mit noch schneebedeckten Gipfeln und wir fragten uns, welchen wir den heute stürmen wollten. Oder wir blieben zurück am Wildbach, der an unserer Hütte vorbeifließt, sammelten Beeren oder haben ein paar Fische gefangen, die wir dann am Abend beim Lagerfeuer auf einer der vielen Flussinseln genussvoll verzehrt haben. Und wer ganz mutig war, der konnte sich beim Duschen unterm eher frischen Wildbach-Wasserfall hinter der Hütte beweisen. Im Winter rodelten wir gleich vor der Hüttentür und wurden von Fahrt zu Fahrt wagemutiger. Und wenn es dunkel wurde, kehrten wir in die Hütte zurück, in der schon der Ofen knisterte, legten noch ein Scheit aufs Feuer und bereiteten gemeinsam ein Abendessen auf eben dem gemauerten Küchenofen. Gerade als Kind sind das gigantische Erlebnisse, die einem ein Leben lang begleiten.

Nicht nur die Urlaubsfinanzen waren beschränkt. Ja, die Finanzen sind auch für die Jugendlichen immer ein Problem. Von dem Taschengeld, das vom Jugendamt bereitgestellt wird, sind keine großen Sprünge zu machen. Zumal davon auch Sachen wir Hygieneartikel usw. davon beschafft werden müssen.Auch hier ziehe ich erneut meinen Hut vor dem Kinderdorf: In jedem Jahr schickt es unzählige Briefe und zahllose persönliche Ansprachen mit der Bitte um Sachspenden an alle möglichen Hersteller. Und immer wieder erklärt sich ein Unternehmen bereit, das Kinderdorf großzügig zu unterstützen und auf einmal steht eine Palette mit Zahnpasta oder Jeans oder anderen Produkten im Hof und für 2 Jahre können sich die Jugendlichen das Taschengeld dafür sparen. Ich hatte schon sehr früh angefangen, mit Nebenjobs etwas Geld zusätzlich zu verdienen. Zuerst habe ich Zeitungen ausgetragen, dann Nachhilfe gegeben oder Leuten am Computer geholfen und mir so die eine oder andere - damals noch - Mark verdient und - teilweise erzwungen - zum großen Teil auf ein Sparbuch gelegt. Auf die lange Sicht aber konnte ich so den Führerschein machen und hatte ein kleines Startguthaben bei meinem Start ins eigene Leben nach der Kinderdorfzeit. Auch konnte ich mir so als Jugendlicher jedes Jahr ein paar Tage Skifahren leisten - ich weiß nicht, in wie weit das heute noch möglich ist, nachdem vor 20 Jahren doch ein ganz anderes Preisniveau in den Skigebieten herrschte und es damals einen ordentlichen Rabatt für das Kinderdorf gab. Und ich konnte mit 15 Jahren eine Segelflugausbildung in Kitzingen beginnen, selbst ein Flugzeug zu steuern, lautlos durch die Luft zu segeln und auch relativ bald alleine zu fliegen sind unbeschreibliche Gefühle. Bis heute bin ich noch begeisterter Segelflieger und Skifahrer.

Das Kinderdorf hat mir also unglaublich viele Erlebnisse bieten können, die mein Leben nachhaltig und positiv geprägt haben.Im Hintergrund gibt es viele Probleme, die das Kinderdorf von einem fernhält. Vieles erkennt man auch erst am Ende, wenn man mehrere dicke Aktenordner mit seinen Akten erhält. Seien es Kämpfe mit der Schule, um auf die höchstmögliche Schule gehen zu können. Ich stand am Anfang sehr auf der Kippe, 5er säumten meinen Weg, aber am Ende habe ich es geschafft, ein 1er Abitur zu machen. Bei vielen anderen ist der Kampf, die Kinder auf die Hauptschule statt auf die Sonderschule schicken zu können oder auf die Realschule statt der Hauptschule usw. Nicht nur mit den Schulen, auch gegenüber einigen Jugendämter bzw. deren gesetzlichen Rahmen gibt es Herausforderungen beim Besuch höherer Schulen, da eine längere Schullaufbahn eine längere Heimmaßnahme bedeutet - somit Geld kostet und knappe Heimplätze blockiert. Viele dieser Kämpfe fechtet das Kinderdorf aus. Die bestmögliche Förderung aller Kinder ist hier wirklich Herzensangelegenheit. Das sieht man auch, wenn das Kinderdorf erneut  Vorreiter bei vielen neuen Förderprojekten für Kinder ist, sei es KästnerHof oder Schulchen. Auch die Probleme mit den Eltern sind ein weites Feld. Bei mir wurde meine Mutter zwischendurch gewalttätig, hat im Kinderdorfumfeld Morddrohungen ausgesprochen und Reifen zerstochen. Oder mein Vater ignorierte sämtliche Pflichten. Die finanzielle Beteiligung an den Heimkosten hat er sowieso nie getragen und selbst banalste Sachen wie die Einreichung einer Arztrechnung bei der Krankenkasse hat er verweigert, was bei primitiven Angelegenheiten wie Arztbesuchen eine wohlwollende Mitwirkung des Arztes bedurfte, um überhaupt eine Behandlung zu bekommen. Zum Glück hat sich hier in der Zwischenzeit einiges geändert, aber mit solchen Problemen durfte sich das Kinderdorf in meinem Fall rumschlagen.

Wie schon gesagt waren manche Jugendämter auch nicht immer begeistert, die relativ teure Heimerziehung zu übernehmen. In der Regel gab es Motivationen, die Heimerziehung so schnell wie möglich zu beenden und den Jugendlichen entweder wieder zu den leiblichen Eltern zu schicken - wenn sich die Situation zuhause scheinbar gebessert hat oder wenn das 18. Lebensjahr vollendet wurde, auch wenn die Schule noch gar nicht beendet wurde und man so dann ohne irgendwas auf der Straße stehen würde. Ich habe es erlebt, wie andere Kinder mehrmals wieder in ihre zerrütteten Elternhäuser geschickt wurden und wieder die gleichen Probleme auftraten und sie dann doch wieder verstört ins Kinderdorf kamen. Solche Belastungen hätte man den Kindern ersparen können.

Wie bei jedem Menschen holt mich die Vergangenheit übrigens immer wieder ein: Ich spiele heute noch gerne Spiele - Brett- und Gesellschaftsspiele oder am Computer. Und da erinner ich mich gerne an gemeinsame Kartenspiele im Haus oder im Sommer im Hof, irgendwie wie eine große „normale“ Familie, daran, wie Gunda doch das ein oder andere mal versuchte, uns dabei – wie sagt man so schön? – zu übervorteilen (andere nennen es auch beschummeln), natürlich strikt aus pädagogischer Absicht ;o).

Ich denke aber auch an Hilfeplangespräche mit dem Jugendamt, an psychologische Gespräche, an Tests, die das Jugendamt benötigte, an Dinge, die es hingegen in „normalen“ Familien nicht gibt. Natürlich waren knapp 9 Jahre Heimerziehung kein großer Abenteuerurlaub. Neid auf normale Kinder, normale Familien waren v.a. in der Schule und dem daraus gewachsenem Freundeskreis häufig. Auch wenn natürlich immer ein offenes Ohr da ist, konnte ich viele Probleme, Wünsche und Bedürfnisse nicht artikulieren. So geht es sicherlich auch anderen Kindern. Jeder hatte hier eine schwierige Vergangenheit, für die er sich mit Sicherheit noch mehr Verständnis und Aufmerksamkeit gewünscht hätte. Trotz einem mit Sicherheit nicht schlechten Leben hätte man als Kind und Jugendlicher gerne immer wieder das Leben mit denen der normalen Schulkameraden getauscht um kein Heimkind zu sein, um in vielen Situationen weniger einsam zu seien. Einsam fühlte ich mich oft, obwohl so viele andere Kinder und Jugendliche um mich waren. Wir waren eine Großfamilie, deren Mitglieder öfter mal wechselten.

Wie Sie sich sicher vorstellen können, funktioniert ein so großer Haushalt nur, wenn alle mit anpacken. Aber als Jugendlicher sah man die viele Mitarbeit an allen Stellen im Haushalt, im Garten, bei den Umbauarbeiten als sehr unangenehm und lästig an. Als ich zusammen mit Gunda 1990 in die Steinmühle gekommen bin, war das ehrlich gesagt eine Bruchbude mit kaputter Scheune. Aber mit 18 konnte dafür ich perfekt für 10 Personen Kochen, Putzen, Wäsche waschen und einen Haushalt organisieren und hatte keine zwei linke Hände. Das ich mir dabei aber die Kinderdorf-typischen Mengen verinnerlicht habe, merkt meine Frau heute noch, wenn ich mal wieder viel zu viel einkaufe oder zubereite. Zuviel putzen tue ich hingegen nie – sagt meine Frau. Bei der Bundeswehr, die meiner Kinderdorf-Zeit folgte, gab es tatsächlich 19jährige, die es nicht mal auf die Reihe gebracht haben, ein Bett zu machen. Gut, das haben sie dann vom Spieß recht schnell beigebracht bekommen. Auch werde ich von Gunda immer wieder gefragt, ob ich in dem gemauerten Steinofen mal wieder Brot oder Pizza backen werden. Zum 35-jährigen Geburtstag gibt es das heute als Geschenk von mir. Einen zeitnahen Termin werden wir bestimmt finden, dann mache ich uns allen frische Pizza aus dem Steinofen.

Wenn ich ein Fazit ziehe, hatte ich mich sowohl als Kind als auch als reflektierender Jugendlicher ziemlich schnell bewusst gegen mein Elternhaus und für das Kinderdorf entschieden.

Auch heute, wo die ganze Kinderdorf-Zeit 21 - 13 Jahre her ist, denke ich sehr positiv an diese Zeit zurück. Sehr viele feste Freundschaften und Bindungen sind entstanden und bestehen nach wie vor. Das Kinderdorf ist meine Familie, ich komme immer gerne her, nicht nur zum Kartenspielen. Und ich versuche mit meinen Mitteln so gut es geht das Erich Kästner Kinderdorf zu unterstützen, sei es, dass ich bewusst einen anderen Ehemaligen aus dem Kinderdorf in meiner Firma beschäftige, Praktikumsplätze zur Verfügung stelle oder eben diese Rede halte.

Damit möchte ich zum Schluss kommen.

Kästners Motto war "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es". Das wird hier als Leitmotiv verstanden und alle Kinder würden sich freuen, wenn Sie auch etwas tun würden. Trägerverein des Kinderdorfes ist der Erich Kästner Kinderdorf e.V. Schon für 5 Euro im Monat - natürlich gerne auch mehr - kann man Mitglied werden und mit seinem Beitrag das Kinderdorf aktiv unterstützen. Dank Gemeinnützigkeit zahlt das Finanzamt bei der Steuererklärung die Hälfte, daher sehe ich keinen Grund, das heute von Ihnen irgendjemand die Veranstaltung verlässt, ohne Mitglied beim Erich Kästner Kinderdorf e.V. zu werden. Mitgliedsanträge finden Sie am Stand des Kinderdorfes, dort weiter vorne.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und Sie finden mich heute den ganzen Nachmittag auf dem Gelände. Für Fragen und Diskussionen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.

Erich Kästner hat geschrieben: „Jeder Mensch gedenke immer seiner Kindheit“. Liebe Gunda, liebe Andrea, Dani, Petra, liebes Kinderdorf-Team, ich wünsche Euch, dass Ihr auch in Zukunft Kindern noch mehr ermöglicht als unser Namensgeber Kästner forderte, nämlich, immer gerne ihrer Kindheit zu gedenken.

Vielen Dank und viel Erfolg für die nächsten 35 Jahre!